Das Fotogramm ist die indexikalischste Form der Fotografie. Es weist die größte Nähe zum Original auf, das es tatsächlich berührt hat, und gleichzeitig die größte Distanz, weil es dessen Aussehen nicht in der gewohnten Weise vermittelt. Es sind andere Kriterien als die Wiedererkennbarkeit, die die Beziehung dieses direkten Abdrucks zur Realität bestimmen. Photogramm[1] und Photographie[2], beide Begriffe reihen ihrer Bedeutung nach das Aufzeichnungsverfahren mittels lichtempfindlicher bzw. fixierender Substanzen vor die Verwendung eines Apparates, und beschreiben – ähnlich wie Telefon oder Computer – einen Prozess.
Bei Hans Kupelwieser ist der Herstellungsprozess ein wesentlicher Teil des Bildes. Seit den frühen 1980er-Jahren sind unter seinen Händen hunderte Fotogramme entstanden – Serien auf 40 x 50 cm großen Blättern, aber von Anfang an auch Formate bis zu 120 x 180 cm. Er benützt die Fotopapiere wie Arbeitsplatten: Am Belichtungstisch liegend oder am Boden ausgerollt, legt, stellt oder schüttet er auf ihnen Dinge aus, mit oder ohne Rücksicht auf ein vom Papier vorgeschlagenes Bildfeld.
Fast immer sind es Dinge, die dem Menschen nahe stehen – Spaghetti, Melanzani, Plastiksäcke, Kabel oder Möbel. Und fast immer ist es ein waagrechtes Tun, ein von Schwerkraft getragenes, vom Druck, von Form, Größe, Volumen und Materialdichte abhängiges Kontaktporträt. Plane Dinge, die das Papier konsequent abdecken, hinterlassen streng konturierte Formen. Bei gerundeten Dingen, Schläuchen oder Erdäpfeln, entsteht eine Art Kern, ein leuchtendes Zentrum, das Licht auszustrahlen scheint. Und umso voluminöser die Körper werden, desto weniger sind ihre Grundflächen und somit der eigentliche Abdruck selbst für die Fotogramme bestimmend, sondern ihre Schattenprojektionen. Somit wird der Lichtquelle bzw. dem Winkel, mit dem sie über den Objekten angebracht ist, eine Rolle zuteil, die wesentlich das Erscheinungsbild der Gegenstände formt. Denn - woraus setzen sich die Gegenstände letztlich zusammen? Aus einem weißen Abdruck, der durchs Schwarz bricht (und den wir etwa als Fuß eines Drehstuhls lesen) und aus einem grauen Schatten, der die übrige Gegenstandsform erahnen lässt, aber über Material und Farbe schweigt. Manchmal verraten Überlagerungen eine semitransparente Beschaffenheit, wenn eine Form in der anderen erscheint. Einen Umraum gibt es nicht, er ist vom Schwarz verschluckt und selbst Fläche geworden. Dafür stellt sich eine Assoziation zu dem negativen Nachbild ein, bei dem das Netzhautbild ähnlich auf eine diffuse Hell-Dunkel-Darstellung ohne räumliche Koordinaten reduziert ist.
Innerhalb dieser nächtlichen Szenen versuchen wir prompt zu dechiffrieren, was vor uns liegt. Im Formenschatz unserer Erfahrungen finden wir, dass eine zu zwei Kammern eingeschnürte Hülse als Erdnuss wiederzuerkennen ist, während dünne, dicht beieinanderliegende Stäbchen, die zwar perfekt gerade, aber nicht von genau gleicher Länge sind, nur Spaghetti sein können. Wie die Dinge eigentlich ausgesehen haben, das lässt sich nie ganz nachvollziehen – aber vielleicht verwendet Hans Kupelwieser gerade, um diesem für das Fotogramm typischen Umstand zu widersprechen, alltägliche und genormte Dinge, die sich gut aus der Erinnerung rekonstruieren lassen. Das befremdliche Aussehen entschuldigt sich jedoch sogleich durch die Einzigartigkeit der referentiellen Bindung: Hier sind die Erdnüsse leibhaftig gelegen und haben das Licht davon abgehalten, alles zu schwärzen, haben die Energie ihrer Schatten gegen das Licht geschickt und vielleicht sogar minimale mechanische Spuren hinterlassen. Das tiefe Schwarz, die hellen Silhouetten, die Umkehr der Tonwerte, die fehlenden Informationen zu Material und Binnenzeichnung unterstützen vielmehr den Eindruck, dass hier gerade erst eine Berührung stattgefunden hat und halten dadurch die enge Beziehung zur Realität aufrecht. Was zuerst auf dem Papier lag und stand, ist letzten Endes mit diesem verschmolzen. Dinge mit einer ausgeprägten Körperlichkeit werden genauso in die Fläche gestürzt und dort fixiert wie Motive, die dem Papier substantiell ähnlicher sind - etwa eine Kunststofftragetasche, selbst ein flaches Rechteck, die beinahe mit dem Blatt zusammenfällt. Sie wird zum „Weißen Quadrat“ und eröffnet mit ihrem Verweis auf die Moderne einen Referenzrahmen, der für das Werk Kupelwiesers generell gelten kann. Denn das Fotogramm hat als ein Medium der Avantgarde die entscheidenden Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts mitgetragen, als es darum ging, ein neues Sehen zu proklamieren, und hat damit einem Medium, das als das realistische Medium schlechthin galt, die Abstraktion ermöglicht. Kupelwieser sprengt diesen Referenzrahmen jedoch auch gerne mit lustvollen und zeitgemäßen Interpretationen, wie er etwa den Ikonen der Abstraktion, dem „WeißenQuadrat“ und dem „Schwarzen Quadrat“ (letzteres ist nur eine Umkehrkopie des weißen), durch den unverkennbaren Griffschlitz der Kunststofftragetasche unverblümt den Konsumalltag an die Seite stellt.
Ein Blick zurück …
Mit dem Verweis auf einen Text von Stanley Carvell hat Rosalind Kraus 1979 argumentiert, dass „die Anerkennung des Ausschnitts, des Abschneidens, die Tatsache, dass die Fotografie, wenn sie die Welt verdoppelt, dies nur stückweise tut“, ganz entscheidend für die Definition von Fotografie ist. Es ist eine radikale Geste der Fotografie, Teile des Abgebildeten abzuschneiden und in der Welt zurückzulassen statt es mit ins Bild zu holen. Aber was, wenn dieses Ausschneiden böse Realität wäre? Die Welt läge längst in Trümmern – jedes Gebäude wäre schon in sich zusammengestürzt und jeder Porträtierte verstorben, weil geköpft oder an anderer Stelle vom Rest seines Körpers getrennt. Da wir jedoch mit dem Phänomen Bildausschnitt vertraut sind[3], ergänzen wir das Fehlende stets gehorsam im Kopf. Umso mehr staunen wir, wenn sich der Ausschnitt dann tatsächlich als real herausstellt! John Hilliard hat mit der Bedeutungsverschiebung gespielt - je nachdem, was im Ausschnitt sichtbar ist und was nicht, haben sich ganz andere Informationen[4] vermittelt und damit vier verschiedene Interpretationsarten eines Bildes ergeben. Ähnlich hat Hans Kupelwieser in seiner zweiteiligen Arbeit „Der Ausschnitt “ durch eine leichte Verschiebung des Blickwinkels das Objekt vom Bildrand weggeholt und damit eine entscheidende Information freigelegt, dass nämlich das Abschneiden buchstäblich aufs Objekt selbst übertragen wurde - mit fatalen Auswirkungen, weil etwas beim Wort genommen wurde, das nur im übertragenen Sinne gemeint ist.
Im „Wasserfall“ wiederum sind 23 Postkarten so zueinander montiert, als wären sie einander überlappende Teilblicke auf einen kontinuierlichen Wasserfall. Es scheint, als wollten sie damit gegen den Ausschnitt antreten, als könnte die ergänzende Reihung einen größeren Zusammenhang erwirken, doch letztlich verstärkt der so besonders schmale, aus der Umgebung herausgelöste Streifen den Effekt des Herausschneidens noch weiter. Ausschnitt, Zweidimensionalität, Maßstabsveränderung und Perspektive, die Abhängigkeit von Licht und weitere charakteristische Eigenschaften des Mediums finden in dieser konzeptuellen Phase Eingang ins Werk Hans Kupelwiesers. „Ilford HP5“ – der damals gängigste S/W-Kleinbildfilm – ist z.B. als Headline auf einer vergrößerten Kontaktkopie zu lesen. Es folgt die typische Perforierung des Kleinbildfilms, acht leicht gerundete Rechtecke, dann die eigentliche Aufnahme, eine Steinbalustrade, deren obere Begrenzung fast mit dem Bildrand zusammenfällt und deren Öffnungen den Blick in einen Park freigeben. Gleichzeitig erzeugen diese ebenfalls gerundeten hochrechteckigen Öffnungen ein Schattenbild, das der Filmperforation entspricht und diese konsequenterweise auch am unteren Rand ersetzt.
In Hans Kupelwiesers späteren Arbeiten sind solche medienimmanenten Themen weniger im Bild ausgestellt, bleiben aber eine Referenzgröße. Die Betonung der verschiedenen Realitätsebenen zwischen Gegenstand und Abbild ist hingegen ein Thema, das ausgebaut wird. Wie schon in der oben beschriebenen Szene mit der Balustrade, wo Bildträger und Abbild einander in der „gemeinsamen“ Perforation annähern, verzahnt Hans Kupelwieser seit den späten 198oer-Jahren Gegenstand und Abbild bzw. gibt einmal dem Gegenständlichen, einmal dem Abbilden den Vorrang, und begibt sich damit in einen transmedialen Bereich, in dem die Dinge verschiedene Formen der Repräsentation durchwandern können - kurz: ein Objekt kann zum Bild und wieder zum Objekt werden, was den Bildhauer Hans Kupelwieser als untrennbares Alter Ego spürbar macht.
Im Jahr 1988 wird einer runden Tischplatte ein Fotogramm auf Film aufgelegt, das verschieden große Kreisformen wie ein Zitat der Tischplatte selbst zeigt. Abbilder und Tischplatte verschmelzen optisch miteinander, weil die Holzmaßerung durch die transparenten Kreise dringt. Was zuerst durch die Überlagerung angedeutet war, wird 1995 real: Ein Halbkreis wird nun tatsächlich in die Platte gefräst. Das Abbilden, die Einschreibung in die lichtempfindliche Schicht wird wieder beim Wort genommen und wirkt sich real auf die Holzplatte aus. 1998 legt sich eine weitere Schicht über den gefrästen Tisch, ein geschnittenes Lochraster liegt während der Vergrößerung des Abzugs von besagtem Tisch am Fotopapier, sodass ein „Fotophotogramm“ entsteht. Dazu kommen weitere Abwandlungen, in denen schließlich wieder der Tisch zum Protagonisten wird und mit seiner Platte große Bildteile verdeckt (1997). Hans Kupelwieser beobachtet, was mit dem Objekt beim Abbilden passiert und überträgt diesen medialen Transfer zurück als reale Auswirkungen des Abbildens auf den abgebildeten Gegenstand.
Auf diese Weise entstehen auch Variationen, in denen das Fotogramm „verräumlicht“ wird: In dichten, fünfschichtigen Collagen winden sich zu schmalen Bändern geschnittene Fotogramm-Kabel, oder Fotogramme werden zu Reliefs „geknüllt“ und wie in einen zu klein geratenen Plexiglaskasten gepresst oder in Epoxyharz gegossen. Als Pendant zur lichtempfindlichen Schicht, die einen Abdruck aufnehmen kann, kann auch erhitztes Plexiglas einen Abdruck abnehmen, genauso wie eine zu einem Sack verschweißte Fotogramm-Plane mittels Vakuum von den innen stehenden Möbeln.
Der Aluminiumstuhl Landi von Hans Coray (1939) trägt die Möglichkeiten des Abbildes noch weiter: Zuerst wird man auf den auffällig gelochten Stuhl in einem mehrteiligen Möbel-Fotogramm aufmerksam - sein Schatten ist im Fotogramm fixiert. Dann lässt Hans Kupelwieser nach diesem Vorbild einen Aluminiumschatten schneiden und zitiert damit den Werkstoff des Stuhls selbst. Der Schatten ist ein zweidimensionales Werkstück geworden und hat sich damit einerseits aus der vergänglichen Flüchtigkeit seiner Artgenossen befreit, andererseits muss er auf seine Wandlungsfähigkeit verzichten, weil in Alu erstarrt. Doch auch das ist widerlegbar: denn Hans Kupelwieser hat Landis Schatten das Knicken beigebracht (Titel, Jahr). In „Twist“ – zum kinetischen Objekt verwandelt - reißt die Rotationsbewegung Landis feste Form wieder auf, um in dynamische Lichtbahnen auszulaufen - die Trägheit des Fotoapparates passt sich dabei unserem Auge an. Wieder in Ruhe, taucht Landis unverkennbare Gestalt unter dem scharfen Licht eines Laserpointers aus der Dunkelheit auf. Jedes Mal ist etwas anderes zu sehen. Es scheint fast, als könne Hans Kupelwieser von einem Gegenstand oder einem Raum unendlich viele Bildvariationen ablösen. 64 leicht geneigte Taschenspiegeln etwa sind 64 Spiegel, die von 64 unterschiedlichen Spiegelbildern ausgefüllt werden[5], die aber auf gar keinen Fall mehr einen homogenen Raum abbilden. Ähnlich stark wirken sich geknickte spiegelnde Stahlkörper auf die Umgebungsbilder aus, oder Zerrspiegel, die aus bekannten Formen neue mutieren.
Die Dreiheit aus Fläche, Form und Raum markiert das Arbeitsfeld von Hans Kupelwieser, Fotogramm und Fotografie lösen darin Folgen von ineinandergreifenden Aktionen und Reaktionen aus, verknüpfen Reproduktionen und Produktionen, entkörperlichen Gegenstände und fixieren latente Zustände. Ein 10 x 3 m langes Fotogramm erstreckt sich über die Hauptwand der Galerie, es ist Bild und Grund zugleich. Andere Arbeiten aus einem Zeitraum von 30 Jahren sind darauf platziert und knüpfen so auch in der Ausstellung das für Hans Kupelwieser charakteristische Bezugsnetz zwischen Fläche und Körper und Wand und Raum wieder neu.
[1] „gramma“ ist die Nachsilbe zur Bildung von sächlichen Substantiven – etwas, das das geschrieben wurde, das Geschriebene, ein Schriftzeichen
[2] „graphie“ (von graphein = schreiben) ist die Nachsilbe zur Bildung eines weiblichen Substantivs und bedeutet „das Schreiben“.
[3] Das gilt zumindest für Erwachsene. Kleinkindern versuchen, die fehlenden Bildteile z.B. unten den angrenzenden Schriftblöcken zu finden.
[4] John Hilliard, Cause of Death, 1974
[5] Vergl. dazu das Vorwort zu Leo Steinberg, Andere Kriterien. In: Kunst/Theorie im 20. Jahrhundert, Band II. Hrsg. Charles Harrison und Paul Wood, Hatje/Cantz,1998, S. 1169